COURAGE GELD nach mehr Unabhängigkeit von Chi- na – kurz: die Auflösung globaler Ver- flechtungen. Deglobalisierung wirkt preistreibend, weil etablierte Lieferket- ten wegbrechen, die Produktion teils in die Industrieländer zurückgeholt wird, wo Löhne und Gehälter höher sind, und sich dadurch die Kosten erhöhen. Die Vielfalt von Ursachen und Wech- selwirkungen führt dazu, dass die Inflati- on schwer vorherzusagen ist. „Inflations- prognosen sind ein Blick in die Glaskugel, vor allem je länger der Prognosehorizont ist“, sagt Kerstin Bernoth, stellvertreten- de Abteilungsleiterin Makroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- schung (DIW) in Berlin und Mitglied im Mo- netary Expert Panel des EU-Parlaments. Je länger der Betrachtungszeitraum, desto mehr Faktoren spielen eine Rolle, die sich mitunter gegenseitig befeuern. Niemand weiß, wie sich etwa der Krieg in der Ukrai- ne entwickelt. „Dementsprechend können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, wo die Energiepreise in diesem oder nächsten Jahr stehen werden“, erklärt die Expertin. Dennoch lassen die Trends einige Rückschlüsse zu. Mithilfe von Experten untersuchen wir fünf Inflationsszenari- en – mit durchschnittlichen Raten von unter zwei bis über zehn Prozent für die nächsten fünf Jahre – und wagen den Ver- such, die wahrscheinliche Richtung zu identifizieren. Szenario 1 Inflationsrate Dass wir in absehbarer Zeit durch- schnittliche Inflationsraten auf Vor-Corona-Niveau erleben werden, hält Stefan Mütze, Senior Economist bei der Landesbank Hessen-Thürin- gen (Helaba), für unwahrscheinlich. „Das würde bedeuten: Die EZB hat ihr Ziel erreicht, alles läuft super“, sagt er. „Das ist zwar nicht unmöglich, aber davon gehe ich im Betrachtungszeit- raum nicht aus.“ Denkbar wäre ein solches Szenario wohl nur dann, wenn die angenommenen Effekte der drei Megatrends ausbleiben. Wenn die de- mografische Überalterung beispiels- weise durch Migration komplett kom- pensiert würde und die Politik wie- der auf Freihandel setzt. Der Krieg in der Ukraine müsste zudem bald be- endet werden, die Energie- und Roh- stoffpreise dürften nicht mehr steigen. Dass all dies gleichzeitig in nächster Zeit eintritt, erscheint eher utopisch. Allerdings: Auch eine sehr negative Wirtschaftsentwicklung könnte die- ses Szenario eintreten lassen, wie Mütze erklärt. „Nämlich dann, wenn sich die Konjunktur deutlich schlech- ter entwickelt, als unsere Modelle das nahelegen.“ In einem solchen Szena- rio würden EU und USA über meh- rere Jahre hinweg in einer Rezession feststecken. Dann würden die Löh- ne stagnieren oder sinken, die Nach- frage nach Gütern und Dienstleistun- gen zurückgehen, die Bereitschaft zu langfristigen Investitionen sinken – und damit das Preisniveau fallen. Die EU-Kommission und andere Ex- perten erwarten in ihren aktuel- len Prognosen jedoch allenfalls ei- nen milden Abschwung. Das deut- sche Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird laut Brüssel in diesem Jahr um 0,6 Prozent schrumpfen. Damit bil- det Deutschland das Schlusslicht in- nerhalb der EU. Die französische Wirtschaft soll um 0,4 Prozent, die italienische immerhin um 0,3 Pro- zent wachsen. Und bereits für Anfang 2024 errechnen die Ökonominnen und Ökonomen ein positives Wachs- tum auch für die deutsche Wirtschaft. Eintrittswahrscheinlichkeit: niedrig Szenario 2 Inflationsrate 2 – 3 Prozent Dieses Szenario halten die Ökonomen Kerstin Bernoth und Stefan Mütze für am wahrscheinlichsten. Der Helaba- Volkswirt erklärt, dass seine Modelle mit den Implikationen der genannten Megatrends vor allem für die drei Jahre von 2025 bis 2027 eine Teuerungsrate von 2,5 Prozent ausspu- cken. Zudem spricht das Inflationsziel der EZB für dieses Sze- nario: eine Rate von 2,0 Prozent. Nach dem anfänglichen Zau- dern bei der Inflationsbekämpfung scheint die EZB inzwi- schen weit entschlossener, die Teuerung wieder einzufangen. Allerdings muss man auch zwischen den Zeilen ihrer Erklä- rungen lesen. Denn die Notenbank nennt ihr Zweiprozentziel „symmetrisch“. Das heißt, auch wenn mittelfristig Abweichun- gen vom Zielwert unerwünscht sind, kann die Inflation „vorü- bergehend leicht über dem Zielwert“ liegen – damit sich nega- tive Abweichungen nicht verfestigen, wie die EZB klarstellt. Eines muss man dabei im Hinterkopf behalten: Die EZB hat ein Interesse daran, das gewünschte Szenario als das wahr- scheinlichste darzustellen. Denn hier geht es um nicht weni- ger als das Vertrauen in die Zentralbank. Die Aufgabe der Wäh- rungshüter ist es, die Preise so stabil zu halten, dass Men- schen und Unternehmen nicht in Schwierigkeiten geraten. Da- bei spielt das Vertrauen dieser Wirtschaftsakteure in die No- tenbank und ihre Instrumente eine entscheidende Rolle. Denn auch davon hängt ab, ob Menschen ihr Geld ausgeben, inves- tieren oder Kredite aufnehmen. Wenn viele zu zweifeln begin- nen, dass die Notenbank die Lage im Griff hat, erodiert das Vertrauen ins Geld. Das kann einen Teufelskreis auslösen: Wer erwartet, dass die Preise immer weiter steigen, kauft lieber heute als morgen, die Güternachfrage nimmt zu, was wiede- rum zu steigenden Preisen führt – die perfekte sich selbst er- füllende Prophezeiung. Doch die ist bislang nicht in Sicht. Eintrittswahrscheinlichkeit: hoch 50 2/2023 courage K C O T S R E T T U H S / A Z V D O D U A L C I I I I : O T O F 21